Lohnen sich Alleingänge beim Klimaschutz? Eine Bilanz der deutschen Energiepolitik

Klaus Stratmann, Handelsblatt, 16. September 2023.

Die Energiewende hat den Strompreis auf ein Rekordniveau getrieben. Es wird Milliarden kosten, die Schäden zu begrenzen. Und ob dem Klima wirklich geholfen ist, bleibt umstritten.

Wie sinnvoll sind nationale (oder europäische) Anstrengungen im Klimaschutz, solange nicht alle großen Volkswirtschaften der Welt ihren CO2-Ausstoß ebenfalls reduzieren? Oder anders gefragt: Wie viel Klimaschutz darf sich eine Volkswirtschaft in Eigenregie leisten, ohne ihre Unternehmen in der Existenz zu gefährden? Die deutsche Klimaschutzpolitik hat insbesondere die Energiepreise auf ein Niveau getrieben, das Antworten auf diese Fragen immer drängender macht.

Doch die fallen unterschiedlich aus. Ökonominnen und Ökonomen streiten darüber, wie sinnvoll (aus Klimaschutzsicht) oder eben schädlich (aus ökonomischer Sicht) nationale Alleingänge sind.

Wichtigster Vertreter der Theorie, dass nationale Anstrengungen im Klimaschutz nicht nur ökonomischen Schaden anrichten, sondern auch ins Leere laufen, ist Hans-Werner Sinn. 

Wann werden nationale Alleingänge zum Problem?

Der frühere Ifo-Präsident argumentiert, CO2-Reduktionen seien grundsätzlich nur dann sinnvoll und überhaupt erreichbar, wenn weltweit möglichst alle relevanten Emittenten mitmachten, hingegen verpufften nationale (oder europäische) Anstrengungen.

Denn: Senke ein Land den Verbrauch an Öl und Gas, dämpfe das die Weltmarktpreise, was wiederum die weltweite Brennstoffnachfrage erhöhe. Der „Klimanutzen“, den das eine Land erreiche, werde von anderen Ländern, den „Trittbrettfahrern“ der Klimaschutzbemühungen, aufgezehrt.

Ein Ausweg bestehe nur darin, dass möglichst alle Länder Emissionssenkungen verbindlich vereinbarten und auch umsetzten. Denn nur dann sei gewährleistet, dass Öl, Gas und Kohle auch tatsächlich in der Erde blieben und dem Klima nicht schadeten.

Das ist die Krux der globalen Klimaschutzbemühungen: Auch das Pariser Klimaschutzabkommen ist nicht verbindlich, sondern verlangt von den Staaten nur Zusagen, die aber regelmäßig nicht eingehalten werden. Insofern, so argumentiert Sinn, sei es zwar ehrenwert, wenn Europa oder speziell Deutschland sich ins Zeug lege. 

Wenn aber wachstums- und energiehungrige Länder wie China nicht nur Photovoltaikanlagen installierten, sondern zugleich massiv in Kohlekraftwerke investierten, sei dem Klima per saldo nicht geholfen. Globale CO2-Emissionsdaten belegen Jahr für Jahr aufs Neue, dass Sinn nicht ganz falsch liegen kann.

Auf der anderen Seite stehen Ökonomen wie Lion Hirth. Der hält Sinns Argumentation entgegen: Verbindliche globale Emissionsreduktionsziele sollten weiter oberste Priorität haben. Erfreulicherweise bewege sich ohnehin auch jenseits verbindlicher Abkommen vieles in die richtige Richtung – und zwar schon allein aus ökonomisch rationalen Gründen.

Denn schließlich seien Elektroantriebe bei Autos um ein Vielfaches effizienter als Verbrennungsmotoren, Gleiches gelte in Bezug auf elektrische Wärmepumpen im Vergleich zu klassischen Heizsystemen.

Einseitige Klimaschutzbemühungen bereiten schneller Probleme, als viele es wahrhaben wollen

Wer hat nun recht: Sinn oder Hirth? Die Beantwortung dieser Frage ist alles andere als banal. Denn davon hängt die klimapolitische Strategie der Entscheidungsträger ab – und das sind eben die Nationalstaaten, also deren Regierungen.

Sinns Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Allerdings bedeuten sie in letzter Konsequenz, dass der Kampf gegen den Klimawandel immer nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners in der internationalen Gemeinschaft stattfände.

Ob eine solche Einstellung der Menschheitsherausforderung Klimawandel gerecht werden kann, das ist die große Frage.

Hirth dagegen liegt richtig, wenn er sagt, es spreche viel dafür, effizienten Technologien den Vorzug zu geben, die dem Klimaschutz dienen. Doch auch hier stellen sich Fragen. Wo verläuft die Grenze? Welche Bemühung ist klimaschonend, ohne wirtschaftlichen Schaden anzurichten?

Der Strompreis ist ein wichtiger Indikator

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang genauer auf den Strompreis zu schauen. Die Zusammenhänge, über die Sinn und Hirth streiten, lassen sich hier gut nachvollziehen. Eine Erkenntnis daraus: Der Punkt, an dem einseitige Klimaschutzbemühungen zu einem volkswirtschaftlichen Problem werden, ist schneller erreicht, als viele es wahrhaben wollen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten nutzen Bundesregierungen den Strompreis, um darüber ihre energie- und klimapolitischen Programme zu finanzieren. Der Strompreis enthält also Bestandteile, mit denen nicht die Stromproduktion, sondern klimapolitische Vorhaben finanziert werden. Damit stößt man nun an Grenzen. Es zeigt sich, dass einseitige Klimaschutzbemühungen Deutschlands, die sich im Strompreis widerspiegeln, kaum mehr verkraftbar sind und sogar zum Teil wirkungslos verpuffen.

Ein Musterbeispiel für das Scheitern dieses Politikansatzes war für mehr als 20 Jahre die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Bis Mitte 2022 wurden über die Stromrechnungen Jahr für Jahr zweistellige Milliardenbeträge vereinnahmt, um damit die erneuerbaren Energien auszubauen. 

Die Umlage hat die Stromkosten für viele Verbraucher deutlich erhöht. Sie war für zahlreiche Branchen eine große Belastung. Klimapolitisch bewirkt das EEG hingegen wenig, da der EU-weite CO2-Ausstoß der Stromerzeugung durch das europäische Emissionshandelssystem begrenzt wird. Die durch das EEG eingesparten Emissionszertifikate dämpfen die Preise im Emissionshandel und machen es attraktiver, Kohlekraftwerke zu betreiben.

Die politisch gewollte Verknappung des Stromangebots perlt an den Märkten nicht einfach ab

Die EEG-Umlage ist gefallen, die Kosten der Transformation aber werden jetzt aus dem Klima- und Transformationsfonds bestritten. Der Vorteil: Das fällt nicht ganz so auf. Doch wo früher die EEG-Umlage belastete, tun dies heute die Netzentgelte. Damit die Energiewende gelingt, müssen die Stromnetze in den nächsten Jahren komplett umgebaut werden. Das wird dreistellige Milliardenbeträge verschlingen, wie die Planungen der Netzbetreiber für die kommenden zwei Jahrzehnte belegen.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Wenn das Stromversorgungssystem umgebaut werden soll, ist der Um- und Ausbau der Netze unverzichtbar. Man darf nur nicht so tun, als sei das finanziell vernachlässigbar. Auch diese Kosten finden sich in den Stromrechnungen wieder.

Weitere Umlagen kommen hinzu, obendrauf noch die Stromsteuer und natürlich die Mehrwertsteuer. 

Hinzurechnen muss man auch die indirekten Kosten des Emissionshandels, die allerdings in allen EU-Staaten anfallen: Die Betreiber von Kohle- und Gaskraftwerken müssen Emissionszertifikate kaufen, die Kosten schlagen sie auf den Strompreis auf.

Die klimapolitischen Effekte des Kohleausstiegs tendieren gegen null

Nicht vergessen darf man die energie- und klimapolitischen Entscheidungen, die das Stromangebot hierzulande verknappt haben. Dazu zählen der Atomausstieg und der Kohleausstieg. Der Streit darüber, wie groß die Preiseffekte dieser Entscheidungen sind, ist müßig. 

Dass eine Verknappung grundsätzlich die Preise treibt, dürfte niemand bestreiten. Das gilt auch dann, wenn man den Atom- und den Kohleausstieg aus ganz anderen Gründen begrüßt.

Der Einwand, viele Unternehmen profitierten beim Strompreis von verschiedenen Ausnahme- und Entlastungstatbeständen, die Belastungen seien mithin gut verkraftbar, zählt nicht viel. Auf einem Teil der Kosten bleiben die Unternehmen immer sitzen. Außerdem müssen sie Jahr für Jahr bangen, ob sie in den Genuss von Vergünstigungen kommen oder nicht. 

Vor diesem Hintergrund investieren Unternehmen natürlich lieber in China oder den USA.

Das Sterben der Industrie ist längst Realität

Aus der Summe dieser Einzelbelastungen ist in Deutschland ein Strompreis entstanden, der im europäischen und erst recht im globalen Vergleich zu hoch ist. Er überfordert die heimische Industrie. Was über Jahre und ganz besonders in der zurückliegenden Phase wirtschaftlicher Prosperität als verkraftbar galt, bedeutet inzwischen eine Existenzgefährdung ganzer Branchen.

Seit vielen Jahren investieren die Unternehmen aus energieintensiven Branchen in Deutschland weniger, als sie abschreiben. Mit anderen Worten: Sie zehren ihre Substanz auf. Das zeigen auch frische Zahlen aus der Stahlbranche, die für sich sprechen: Im ersten Halbjahr waren die Unternehmen der Branche in der EU zu 62 Prozent ausgelastet, in China zu 94 Prozent, in Indien zu 98 Prozent.

Nun locken die Verteidiger der Zustände mit der Aussicht auf sinkende Strompreise, auf ein Schlaraffenland des Überflusses an Strom aus erneuerbaren Energien zu niedrigen Preisen. Doch der Weg dahin ist denkbar weit. Und ob die Aussicht überhaupt realistisch ist, bleibt unklar. Regelmäßig werden die Systemkosten einer solchen neuen, grünen Stromwelt vernachlässigt oder gezielt kleingerechnet. 

Natürlich lässt sich Wind- und Sonnenstrom heute zu sehr niedrigen Kosten erzeugen. Zur Überbrückung von Phasen ohne Wind und Sonne muss aber noch ein aufwendiges System aus Speichern und mit Wasserstoff betriebenen Back-up-Kraftwerken aufgebaut werden. Das wird – hoffentlich – ein tolles, klimaneutrales System! Aber es wird Milliarden kosten.

Es hilft niemandem, wenn die Kollateralschäden größer sind als der Nutzen

Viele Politiker räumen nun ein: Der Versuch, das Energieversorgungssystem auf Kosten der Stromverbraucher umzubauen, gefährdet den Industriestandort. Gleichzeitig gelingt es aber nicht, sich für ein grundsätzlich neues System zu entscheiden oder zumindest eine provisorische Brücke zu bauen. Eine Brücke, die trägt, bis die Verheißung der niedrigen Strompreise – hoffentlich – Realität geworden ist.

Die Brücke, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nun vorschwebt, um Teile der Industrie zu retten, ist ein Industriestrompreis als ein übergangsweise vergünstigter Strompreis für energieintensive Betriebe. Dieser soll insbesondere den großen Konzernen helfen. Große Teile des Mittelstands aber blieben außen vor. Zehntausende Unternehmen müssten schauen, wie sie mit den hohen Preisen fertigwerden, und zwar auch solche, die sehr wohl im internationalen Wettbewerb stehen.

Die SPD-Bundestagsfraktion und einige Wirtschaftsverbände wollen den Kreis der Begünstigten nun größer ziehen. Die FDP wiederum will allen ein ganz kleines bisschen helfen, indem sie die Stromsteuer von derzeit 2,05 Cent je Kilowattstunde auf den europäischen Mindestwert von 0,05 Cent senkt. Das ist so wenig, dass Betroffene quer durch alle Branchen den Vorschlag eher als Zynismus empfinden dürften.

Große Unsicherheit herrscht auch mit Blick auf die Zeitspanne, für die ein gedeckelter Industriestrompreis erforderlich wird. 2030, so die Auffassung unter den Befürwortern eines Industriestrompreises, werde man ja wohl das „Tal des Todes“ durchschritten haben und dem Schlaraffenland nahe sein. Doch das ist sehr optimistisch.

Eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens IW Consult und von Frontier Economics kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland bis 2045 weitaus höhere Preise für Strom und Wasserstoff verlangt werden dürften als in anderen Ländern.

„Wir würden etwas langsamer sterben“

Und wenn die Politik nun einen Industriestrompreis von fünf oder sechs Cent vorschlägt, dann ist übrigens jeweils der Preis vor Abgaben und Steuern gemeint. Zuzüglich Nebenkosten sind damit Werte deutlich jenseits der Zehn-Cent-Marke realistisch. Das heißt, unterm Strich wäre der Unterschied zum französischen Industriestrompreis von rund vier Cent oder gar zu den drei Cent, die viele Unternehmen in China oder den USA zahlen, noch immer immens. „Wir würden etwas langsamer sterben“, sagt ein Manager zynisch.

Wie man es auch dreht und wendet: Es steht keine Lösung zur Debatte, die allen Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen und unter dem hohen Strompreisniveau in Deutschland leiden, angemessene Hilfe gewährt. Mit anderen Worten: Deutschland kann oder will es sich nicht leisten, Unternehmen einen Ausgleich für die überwiegend klimapolitisch induzierten Strompreisbelastungen zu gewähren, deren klimapolitischer Nutzen zum Teil auch noch fraglich ist.

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren mit Alleingängen, die nicht einmal auf europäischer Ebene abgestimmt waren, in eine Sackgasse begeben. Wir haben überreizt. Es hilft schließlich niemandem, wenn die Kollateralschäden größer sind als der klimapolitische Nutzen. Deutschland will Vorbild sein, Blaupause für eine erfolgreiche Klimaschutzpolitik. Doch dieses Ziel ist in weite Ferne gerückt.

Es kann und darf natürlich nicht darum gehen, jedem einzelnen Industrieunternehmen eine Überlebensgarantie für die nächsten 20 Jahre zu gewähren. Strukturelle Anpassungen werden unvermeidlich sein. Aber eine gesunde wirtschaftliche Basis darf dabei nicht riskiert werden. Das sollte unstrittig sein – egal, welche der beiden eingangs zitierten ökonomischen Ansätze am Ende richtig sind.

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