Kommunikatoren - Der Missionar

Julia Graven, MünchnerUni Magazin, Nr. 02/2007, 11. Juni 2007, S. 20-21.

Hans-Werner Sinn ist in Nachrichten, Talkshows und Zeitungen präsent wie kein anderer Ökonom. Auch in der internationalen Wissenschaftscommunity gehört er zu den meistzitierten deutschen Volkswirten. Doch die Bestseller des LMU-Professors spalten die Leserschaft. Sinn sucht die Auseinandersetzung, ist begeisterte Zustimmung wie heftige Kritik gewohnt. Der Volkswirtschaftler ist Berufspendler zwischen Wissenschaft, Medien und Politik.

12 Uhr mittags. Im ifo Institut für Wirtschaftsforschung gibt es belegte Semmeln und volkswirtschaftliche Häppchen. Vor den Mitarbeitern, Doktoranden und Gästen des Instituts hält ein niederländischer Gastwissenschaftler einen Vortrag über die Alkoholsteuer. Bier oder Wein gibt es dazu leider nicht, wie Hans-Werner Sinn in seiner jovialen Einleitung bemerkt. Der niederländische Alkohol-Experte ist Professor in Rotterdam und ein langjähriger Bekannter, sie haben bereits gemeinsam Bücher herausgegeben. Einem Gastforscher aus der Jurisprudenz bringt der ifo-Präsident zwei halbe Semmeln zum Platz. Sinn ist in der globalen Wirtschaftsforschung vernetzt wie kaum ein zweiter.

Sinn, der sich beim Taxifahren das Studium verdiente, hat es weit gebracht. Als Arbeiterkind vom Dorf war er nicht prädestiniert für Gymnasium, Hochschule, Promotion und Hochschulkarriere. Dabei vertritt er ganz andere wirtschaftliche Thesen als etwa Gerhard Schröder, der es mit einem ähnlichen Lebenslauf ins Kanzleramt schaffte. Flexible Lohnstrukturen, lange Arbeitszeiten und eine Sozialpolitik, die das Mitmachen statt das Wegbleiben belohnt, das sind die Eckpfeiler seiner Botschaft in diesen Tagen.

Während des Vortrags im ifo sitzt Hans-Werner Sinn ganz vorne. Eine Weile lauscht er konzentriert, dann holt er seinen PDA aus der Tasche und tippt scheinbar abwesend darauf herum. Bis er sich den Stift vom Sitznachbarn nimmt und anfängt, Modelle zur Alkoholsteuer auf Papier zu kritzeln. „Ein Volkswirtschaftler denkt nun mal in Modellen“, erklärt er später. Nach dem Vortrag stellt er die erste Frage, auch die zweite kommt von ihm. Dann sind die wissenschaftlichen Mitarbeiter des ifo an der Reihe.

Hans-Werner Sinn bleibt sitzen. Er öffnet seine große Aktentasche. Darin sind keine Papiere, keine Akten, stattdessen zwei Handys, ein PDA und ein Laptop. Täglich bekommt er Mails aus seinem Forschernetzwerk und Medienanfragen. Zwar hat er außerordentlich viele wissenschaftliche Werke international veröffentlicht und steht deshalb unter den aktiven Volkswirten Deutschlands an der Spitze der internationalen Zitierstatistik. Aber Sinn, inzwischen 59 Jahre alt, sieht es heute als seine Hauptaufgabe, Kommunikator zu sein. Seine Öffentlichkeitsarbeiter dokumentieren haarklein alle Medienberichte auf der Homepage des CESifo. Auch jede Frage von Privatleuten beantwortet Sinn dort persönlich im Diskussionsforum. Im Institutsgebäude wurde sogar einer der Besprechungsräume in einen Medienraum umgebaut – für die vielen TV- und Radiointerviews, die er und seine Bereichsleiter geben. „Wir sind hier ja nicht der Elfenbeinturm“, erläutert Hans-Werner Sinn. Er will gehört werden und etwas bewegen. Als Konfirmand wollte er Missionar werden, hat er mal der „Zeit“ erzählt. „Aber das bist du doch geworden“, hat seine Frau Gerlinde daraufhin gesagt.

ZU VIEL ÖKONOMIE ZU HAUSE

Hans-Werner und Gerlinde Sinn heiraten noch während des Studiums in Münster. Später ziehen sie nach Mannheim, wo beide als Assistenten arbeiten. Sie bekommen drei Kinder und schreiben die viel beachtete Monographie „Kaltstart“ über die ökonomischen Probleme der deutschen Einheit, die in viele Sprachen übersetzt wurde. Gerlinde Sinn kümmert sich heute um die Alumniaktivitäten der Volkswirtschaftlichen Fakultät. Bis heute besuchen die Eheleute Konferenzen gemeinsam, diskutieren daheim volkswirtschaftliche Fragen. „Das ist fast schon zu viel Ökonomie zu Hause“, sagt Sinn.

Den markanten Backenbart, der ihn wie die neoliberale Variante von Fidel Castro aussehen lässt, hat Hans-Werner Sinn seit seiner Studentenzeit. Auch seine Sprache beweist Kontinuität. Den westfälischnasalen Dialekt hat er sich nach 30 Jahren im Süden der Republik bewahrt, nicht wenige Sätze enden mit einem „nech“. Der Professor ist kein Medientyp mit strahlendem Lächeln. Doch die Sinnsche Rhetorik macht das wett. Er ist seit Jahrzehnten geübt darin, seine volkswirtschaftlichen Thesen in einfache Sätze zu packen, zuzuspitzen und zu polemisieren. Das unterscheidet ihn von den meisten anderen Ökonomen. Jedem Journalisten erläutert er seine Schlagworte so, als ob ihm diese Ideen gerade erst gekommen sind. So läuft er dann zum Beispiel für muenchen.tv erzählend über die Kieswege im prächtigen Garten des ifo Instituts. Er schafft es, in diesem Fernsehinterview eine Dreiviertelstunde fast ohne volkswirtschaftliche Fachbegriffe auszukommen und trotzdem vieles klar zu machen.

Die frühen Bücher von Hans-Werner Sinn hießen „Economic Decisions under Uncertainty“ oder „Capital Income Taxation and Resource Allocation“. Seine aktuellen Titel sind massenkompatibel. „Ist Deutschland noch zu retten?“ und „Die Basar-Ökonomie“ gibt es inzwischen sogar als Hörbücher – die Gesamtauflage ist sechsstellig. Er findet, „eine Theorie taugt nichts, wenn man sie nicht jemandem erklären kann, der von dem Fach keine Ahnung hat.“ Auch die „Bild“-Zeitung liebt ihn sehr und nennt ihn „Deutschlands klügsten Wirtschaftsprofessor“. Sinn ist das peinlich, findet aber, dass man sich für die „Bild“-Zeitung nicht zu fein sein darf, wenn man die Menschen aufklären will. Auch seine Auftritte bei Christiansen, Illner und Maischberger sind für ihn „Sinn“-stiftend, schließlich kann „schon das Anreißen von Thesen im Fernsehen etwas bringen. Die Zuschauer können sich dann ja weiter informieren, wenn ich sie neugierig gemacht habe.“

Auch die Studenten an der LMU schätzen seine klare Sprache. Er kann Ökonomie anschaulich machen und ihre politische Bedeutung erklären. Für den Professor sind Vorlesungen an der Hochschule eine Variante seiner Arbeit als Kommunikator. „Die Studierenden sind ja auch eine Art von Öffentlichkeit, nur habe ich dort mehr Zeit, Sachverhalte auszuführen, und ich kann sie auch anhand von Modellen erklären.“ 1991, als Sinn einen Ruf an die Universität Bern erhalten hatte, haben sich 60 Prozent der Münchener VWL-Studenten an einer Unterschriftenaktion beteiligt, in der Sinn aufgefordert wurde, an der LMU zu bleiben. Er hatte einige Angebote, an andere Universitäten oder Forschungsinstitute zu gehen. Unter anderem wurde ihm die Leitung des ersten Max-Planck-Instituts für Volkswirtschaftlehre angetragen. Aber „die Münchener Universität war dann immer sehr freundlich zu mir, so dass ich hier geblieben bin“, sagt er. 1991 zum Beispiel durfte Sinn das Center for Economic Studies CES an der LMU gründen, aus dem inzwischen das CESifo-Forschernetzwerk hervorgegangen ist, das drittgrößte seiner Art weltweit. Den Ruf nach Bern wie auch alle anderen Rufe lehnte er ab.

Oskar Lafontaine nannte den Münchener Volkswirtschaftler früher gerne „Professor Unsinn“. Inzwischen behaupten Sinn und Lafontaine, die Bücher im gleichen Verlag herausgaben, dass sie sich respektieren. Rein persönlich zumindest. Im Streitgespräch bei Sandra Maischberger kämpft Sinn gegen den Politprofi Lafontaine vehement für sein Kombilohnmodell der „Aktivierenden Sozialhilfe“. Mit diesem – so erklärt er es den Politikern in Berlin – gäbe es drei Millionen Arbeitslose weniger. Eine gewagte These, aber Sinn vertritt sie mit grandiosem Selbstvertrauen. Es scheint, dass solche Diskussionen für ihn eine Art von Sport sind, bei dem es nur Gewinner oder Verlierer gibt. Hans-Werner Sinn will gewinnen.

HANS-WERNER SINN

Geboren wurde Professor Hans-Werner Sinn 1948 im westfälischen Brake. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Münster und schrieb seine Diplomarbeit über „Das Marxsche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“. In Münster heiratete er seine Kommilitonin Gerlinde Zoubek, mit der er drei Kinder hat. 1978 promovierte Sinn in Mannheim über „Ökonomische Entscheidungen bei Ungewissheit“. Er nahm eine Assistenzprofessur an der University of Western Ontario in Kanada wahr und habilitierte sich 1983 mit einer Arbeit über die intertemporalen Allokationswirkungen der Kapitaleinkommensbesteuerung. Ein Jahr später übernahm er den Lehrstuhl für Versicherungswissenschaft an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU. Nach einigen Jahren wechselte er auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. 1991 gründete er das Center for Economic Studies CES an der LMU, das als Gastforscherprogramm bislang mehr als 400 Volkswirtschaftler vom Nachwuchsforscher bis zum Nobelpreisträger aus der ganzen Welt zu Forschungsaufenthalten nach München holte. 1999 wurde Hans-Werner Sinn zusätzlich Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und verknüpfte die Tätigkeit von CES und ifo in der CESifo-Gruppe. Sinn war langjähriger Vorsitzender des Fachverbandes der deutschsprachigen Volkswirte (Verein für Socialpolitik) und ist seit dem Jahr 2006 Präsident des Weltverbandes der Finanzwissenschaftler (IIPF).

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