ifo Standpunkt Nr. 48: Hände weg von der Entfernungs-Pauschale!

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 2. Oktober 2003

Bei der Suche nach neuen Steuereinnahmen erwägt die Regierung nun, die Kilometer- oder Entfernungspauschale der Arbeitnehmer von 40 bzw. 36 Cent für Kurzstrecken auf nur 15 Cent zu kürzen. Etwa 3 Mrd. Euro sollen mehr in die Kassen des Fiskus fließen. Diese Maßnahme wird als "Subventionsabbau" begründet.

Das ist eine Begriffsverwirrung, denn ein Subventionsabbau führt zu einer Verminderung der Ausgaben des Staates, und nicht zu einer Erhöhung der Einnahmen, wie es die Kürzung der Entfernungs- Pauschale tut. Aber es geht nicht um Semantik, sondern um ökonomische Vernunft, und die spricht keineswegs für eine Senkung oder gar Abschaffung der Pauschale.

Richtig ist, dass der Abbau der Pauschale die Wege der Pendler verringern wird, weil viele nicht mehr bereit sein werden, entfernte Arbeitsplätze zu wählen. Das Faktum ist klar. Unklar ist seine Bewertung. Die einen sagen, dass weniger Verkehr besser ist, die anderen sagen, dass Mobilität gut ist. Wer hat Recht?

In der Marktwirtschaft ist das Kriterium für die richtige Verhaltensweise der Menschen in aller Regel zunächst die Situation ohne staatlichen Einfluss, also ohne die Einkommensteuer. Die Einkommensteuer ist neutral und verzerrungsfrei, wenn ihre Erhebung die ökonomischen Wahlentscheidungen der Menschen nicht verändert.

Ein Beispiel möge den Sachverhalt erläutern. Gesetzt den Fall, einem Arbeitnehmer wird ein entfernter Arbeitsplatz angeboten, bei dem er vor Steuern im Jahr 5.000 Euro mehr an Werten erzeugt und auch verdient, jedoch 4.000 Euro an zusätzlichen Wegekosten hat. Dann würde er den Arbeitsplatz annehmen, wenn es keine Steuern gäbe. Und in der Tat sollte er ihn annehmen, weil durch seine Entscheidung im Vergleich zum Verharren auf dem alten Arbeitsplatz ein verteilbarer Überschuss von 1.000 Euro entsteht.

Ein effizientes Steuersystem, das die Entscheidung nicht verändert, erlaubt den Abzug der tatsächlichen Wegekosten. Es definiert das zusätzliche steuerpflichtige Einkommen als 5.000 Euro Lohn minus 4.000 Euro Wegekosten, also als 1.000 Euro. Wenn von diesen 1.000 Euro ein gewisser Teil, sagen wir die Hälfte, weggesteuert wird, wird der private Vorteil aus dem Arbeitsplatzwechsel zwar kleiner, aber er bleibt als solcher erhalten. Deshalb findet der Arbeitsplatzwechsel nach wie vor statt. Der gesellschaftliche Überschuss in Form von 1.000 Euro, der durch den Arbeitsplatzwechsel entsteht, geht in diesem Beispiel zur Hälfte an den Staat und zur Hälfte an den Arbeitnehmer.

Ein System, das den Abzug der Kosten nicht erlaubt, würde das private Verhalten im Vergleich zur Referenzsituation ohne Steuern jedoch ändern und ist deshalb ineffizient. Der Nettolohnzuwachs betrüge in einem solchen System noch 2.500 Euro, und nach Abzug der Brutto-Wegekosten von 4.000 Euro entstünde ein privater Verlust von 1.500 Euro, obwohl nach wie vor ein sozialer Gewinn für den Arbeitnehmer und den Staat in Höhe von 1.000 Euro winkt. Der Arbeitnehmer würde sich nun hüten, die Stelle zu wechseln, und ein möglicher Gewinn von 1.000 Euro für alle Beteiligten würde nicht realisiert.

Diese Überlegungen sind nicht auf die Wegekosten beschränkt, sondern berühren die ökonomischen Grundprinzipien der Besteuerung. Immer wenn eine Steuer mehr oder weniger als den Abzug der wahren Kosten erlaubt, ruft sie schädliche Verhaltensänderungen hervor. Genau deshalb haben wir Gewinn- und Einkommensteuern, bei denen Werbungskosten grundsätzlich abzugsfähig sind. Verlässt man das Prinzip der Abzugsfähigkeit der tatsächlichen Werbungskosten, so wirft man Sand in das Getriebe der Wirtschaft. Indem man die Abzugsfähigkeit bestimmter Kosten beschneidet, lässt man sie im privaten Kalkül der Bürger bedeutsamer erscheinen, als sie wirklich sind, und provoziert ökonomische Fehlentscheidungen.

Um die Beschneidung der Entfernungs-Pauschalen zu rechtfertigen, muss man schon argumentieren, dass diese Pauschalen größer als die tatsächlichen Wegekosten sind. Bei nur 36 bzw. 40 Cent pro Kilometer ist dies aber kaum möglich. Die ADAC-Zahlen zu den bloßen Geldkosten der Autofahrt liegen eher im Bereich von 50 Cent und mehr.

Der Nichtabzug der Wegekosten wirkt wie die Erhebung einer Sondersteuer auf die Fahrt zum Arbeitsplatz. Allenfalls die den Arbeitnehmern noch nicht angerechneten Kosten der Umweltverschmutzung und des Straßenbaus könnten angeführt werden, um eine solche Sondersteuer zu begründen. Aber solche Kosten liefern nur schwache Argumente angesichts des Umstandes, dass mit der Mineralölsteuer und neuerdings auch der GPS-Straßenmaut sehr viel zielgenauere Mittel zur Umlegung dieser Kosten zur Verfügung stehen. Deshalb: Hände weg von der Kilometer-Pauschale!

 

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Hände weg von der Entfernungs-Pauschale!", Süddeutsche Zeitung, Nr. 221, 25.09.03, S. 20.