„Wir brauchen eine Schuldenkonferenz“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Focus Money, 01.07.2015, S. 28-31.

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über den Zankapfel Euro, die zweifelhaften Praktiken der EZB und warum Europa so nicht funktioniert

FOCUS-MONEY: Seit Monaten beschäftigt uns Griechenland. Ein Problem, das scheinbar nicht zu lösen ist. Machen Sie uns doch jetzt bitte Hoffnung und sagen, den anderen Südeuropäern geht's besser.

Hans-Werner Sinn: (lacht) Besser schon, aber Südeuropa hat nach wie vor ein riesiges Wettbewerbsproblem, weil es durch den Euro in eine inflationäre Kreditblase kam. Jetzt müssen die Länder den Prozess der realen Abwertung gehen - also durch Lohn- und Preiszurückhaltung die Wettbewerbsposition gegenüber dem Norden verbessern. Das ist ein ganz mühsamer Prozess. Es ist die Kehrseite des Anfangsbooms durch die Euro-Einführung, den wir bis 2008 hatten. Wenn Sie so wollen, ist das der Kater nach der Party.

MONEY: Aber der Kater wurde doch durch jede Menge Alka Seltzer gemindert: Rettungspakete, Billionen-Geldspritze durch die Europäische Zentralbank (EZB), eine schier endlose Nullzinsphase - ist Europa in den vergangenen Monaten denn überhaupt nicht vorwärtsgekommen?

Sinn: Durchaus. In Spanien sieht man erste nennenswerte Effekte. Das Land hat real abgewertet. Auch Griechenland hat im Übrigen real abgewertet, auch wenn das noch lange nicht ausreicht. In Italien sind gewisse Reformen am Arbeitsmarkt durchgeführt worden. Ob das schon ausreicht, sei dahingestellt und muss sich noch zeigen. Denn Italien und auch Portugal haben die Abwertung durch Lohn- und Preiszurückhaltung bislang noch nicht gezeigt.

MONEY: Also hat die jahrelange europäische Krisenbewältigungspolitik kaum etwas gebracht?

Sinn: Ich glaube, wir haben zu viel durch Gemeinschaftshaftung und öffentliche Kredite verschleppt. In dem Maß, in dem wir die Gemeinschaftshaftung einführen, senken wir künstlich die Zinsspreads und ermöglichen es den Ländern, sich immer weiter zu verschulden, statt die nötigen Anpassungen vorzunehmen. Ich würde mir in der Euro-Zone mehr Flexibilität wünschen.

MONEY: Mehr Flexibilität? Wofür?

Sinn: Im Hinblick auf mögliche Austritte aus der Gemeinschaftswährung. Warum muss man den Euro wie ein Gefängnis halten, in das man nur rein und nicht wieder raus kann? Was ist so schlimm daran, wenn temporär ein Land austritt, um abzuwerten - und dann gesund zurückkehrt?

MONEY: Wenn jeder kommen und gehen kann, wie er gerade will, bekommt Europa wohl kaum eine stabile Währung?

Sinn: Ich glaube, der Versuch, mit dem Euro so etwas zu schaffen wie den Dollar, ist so lange müßig, wie wir den gemeinsamen europäischen Staat noch nicht gegründet haben. Und bis das der Fall ist, wäre es besser, den Euro flexibler zu handhaben. Damit wäre die Gemeinschaftswährung eben einen Schritt weiter als das Europäische Währungssystem bis 1998 mit den unterschiedlichen Währungen und festen Kursen. Wir hätten die gemeinsame Währung, das gemeinsame Zahlungsmittel - aber auch mit Aus- und Eintrittsmöglichkeiten.

MONEY: Ihren Einfluss auf die Poltik in allen Ehren. Aber es scheint doch sehr unwahrscheinlich zu sein, dass Merkel & Co. diesen Vorschlägen folgen. Wo führt es hin, wenn die Entscheider der Euro-Zone weitermachen wie bisher?

Sinn: Dann gelangen wir in eine Schuldenunion. Und eine Transferunion. Letztlich kommen wir in ein System mit Finanztransfers zwischen den Ländern. Das kann angesichts der enormen Unterschiedlichkeit der Produktivität der Länder Europas nicht funktionieren. Wir können nicht die Euro-Zone so konstruieren wollen, dass überall derselbe Lebensstandard gilt, unabhängig von der Produktivität des jeweiligen Landes. Denn wenn wir das versuchen, müssen sehr viele Mittel fließen. Und diese Mittel zementieren dann auch die fehlende Produktivität. Wenn man Geldmittel von außen bekommt, die den Lebensstandard und die Löhne jenseits der Produktivität halten, dann gibt es keinen Anreiz mehr, etwas zu verändern.

MONEY: Weil jeder weiß, im Zweifel kommt der nette Herr Draghi mit der nächsten Bazooka. Gehört nicht auch das System der Europäischen Zentralbank hinterfragt? Schließlich trägt es erheblich dazu bei, dass es an Anreizen fehlt, die Probleme zu lösen.

Sinn: Das EZB-System muss dringend überarbeitet werden. Wir können eigentlich nicht zulassen, dass nur mit Zweidrittelmehrheit das Selberdrucken von Geld abgeblockt werden kann. Das tun ja die Griechen in riesigem Umfang. Sie haben sich für rund 89 Milliarden Euro ELA-Kredite gewährt. Diese ELA-Kredite treten zu den anderen Refinanzierungskrediten hinzu. Insgesamt dürften sich die Griechen etwa für 120 Milliarden Euro mehr Geld durch ihre Zentralbank geschaffen haben, als es der Größe ihres Landes angemessen wäre. Geld, das sie dann ins Ausland überwiesen oder in den Koffer gesteckt haben.

MONEY: Und die soliden Staaten wie Deutschland konnten dagegen im EZB-Rat nichts unternehmen?

Sinn: Wir hatten vor dem Beitritt Lettlands und Litauens eine Situation, in der die sechs Krisenländer eine Stimme mehr im EZB-Rat hatten als ein Drittel. Das heißt: Wenn sie sich einig waren, und das waren sie offenbar, konnten sie sich diese ELA-Kredite grenzenlos gewähren. Und niemand konnte das blockieren.

MONEY: Inzwischen haben sich die Machtverhältnisse doch verschoben. Das ließe sich also korrigieren.

Sinn: Jetzt ist die Ausgangslage in der Tat etwas schwieriger. Aber dennoch nicht unmöglich, da ja auch andere Länder auf ihrer Seite stehen. Frankreich beispielsweise ist sehr offen für eine ganz lockere Kreditgewährung.

MONEY: Also kommen wir nie auf den Pfad der Tugend zurück?

Sinn: Schuldendisziplin kann man natürlich nur erzeugen, wenn die Gläubiger wissen, dass sie im Zweifel ihr Geld verlieren können. Nur dadurch ist der Druck für alle Beteiligten hoch genug, entsprechend diszipliniert zu wirtschaften. Wir brauchen in Europa daher unbedingt eine No-Bail-out-Klausel. Wie in den USA, wo der Staat nicht einspringt, wenn einer der Bundesstaaten pleite ist. Dieses System hat sich eindeutig bewährt. Wobei es diese Klausel ja eigentlich im Maastrichter Vertrag gibt. Nur eingehalten wurde sie nicht.

MONEY: Auch in Spanien ist derzeit ein Linksruck zu beobachten. Ende des Jahres stehen dort Parlamentswahlen an, und eine linke Regierung würde in Sachen Schuldendisziplin sicher kein Vorreiter sein. Kann man dann den Spaniern die Euro-Milliarden verwehren, die man den Griechen gegönnt hat?

Sinn: Die Gefahr von Ansteckungseffekten ist sicher groß.

MONEY: Aber Spanien hat schon harte Reformen angeschoben, und die Bürger tragen diese mit.

Sinn: Natürlich. Aber wenn sie das Gefühl haben, es geht auch anders, etwa, dass man mit billigen öffentlichen Mitteln auch leben kann, warum sollten sie dann die richtig harten Reformen durchziehen? Denn Reformen bedeuten ja immer, dass es Verlierer gibt. Dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen zurückstecken müssen. Das tun sie nicht, wenn sie wissen, es gibt auch noch eine Alternative.

MONEY: Ist das Projekt Euro also in seiner jetzigen Form gescheitert?

Sinn: Das ist ein sehr hartes Wort. Gescheitert ist es nicht. Aber es hat nicht so funktioniert, wie man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, den Euro so nicht zu haben. Weil er ja doch ziemlich viel durcheinandergebracht hat. Und die Länder Europas gegeneinander aufbrachte. Aber im Nachhinein ist man immer klüger. Ich würde daraus nicht schließen, dass man den Euro abschaffen sollte. Vielmehr muss man jetzt das Beste daraus machen.

MONEY: Wie kommt Europa nun aus dem Schlamassel?

Sinn: Der erste Punkt ist: Man muss anerkennen, wenn Länder ihre Schulden nicht zurückzahlen können und deshalb einen Schuldenschnitt benötigen. Wir brauchen also eine Schuldenkonferenz in Europa, um das zu verhandeln. Und zwar einen Schuldenschnitt zu Gunsten von Staaten, zu Gunsten von Banken und zu Gunsten der Notenbanken, die sich die hohen Target-Schulden aufgebaut haben.

MONEY: Und dann erlassen wir einfach nach der Rasenmähermethode jedem seine Schulden, und alles wird gut?

Sinn: Natürlich nicht vollkommen. Das Wie und das Wieviel ist letztlich ein Verhandlungsergebnis, das von Land zu Land unterschiedlich ausfallen kann. Aber es muss sichergestellt sein, dass nach dem Schuldenschnitt diese Länder auch wettbewerbsfähig sind. Und dafür muss man prüfen, ob ein Land das im Euro erreichen kann oder ob es besser für eine Zeit austritt.

MONEY: Und dann steht der Euro plötzlich mit fünf oder zehn Ländern weniger da?

Sinn: Davon kann keine Rede sein. Für mich ist klar, dass Irland wettbewerbsfähig ist. Es hat als einziges Land eine starke reale Abwertung hingelegt - im Euro wohlgemerkt. Und zwar, weil die Krise früher kam. Bevor es Finanzhilfen gab. Aber für mich ist auch klar, dass Griechenland eben nicht wettbewerbsfähig ist.

MONEY: Und Spanien und Italien?

Sinn: Spanien ist ein schwieriger Fall. Das müssen die Spanier selbst entscheiden, ob sie im Euro den harten Weg der realen Abwertung gehen wollen oder nicht. Ich kann es mir vorstellen, dass es das Land innerhalb des Euro schafft. Spanien hat im Norden eine starke Industrie. Das ist insofern nicht vergleichbar mit Griechenland. Denn es ist einiges vorhanden, auf dem man aufbauen kann. Auch Italien hat eine starke Industrie im Norden. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, dass Spanien und Italien austreten. Aber die Entscheidung würde ich jedem Land selbst überlassen. Und ich würde niemals behaupten, dass es ein Unglück ist, wenn jemand diesen Weg gehen will. Warum auch?

MONEY: Da im Moment nicht so viel darauf hindeutet, dass Ihr Vorschlag bei den Entscheidern Gehör findet: Wie lange kann das Euro-System noch exisitieren, bis es kollabiert?

Sinn: Das kann noch sehr lange so weitergehen. Ineffiziente Außenhandelssysteme können gerade in der Marktwirtschaft länger durchgehalten werden, weil die eine hohe inhärente Kraft hat. Die Sowjetunion hat es auch sehr lange gegeben. Obwohl sie keine Marktwirtschaft war. Allerdings hatte die Sowjetunion Gewaltmittel benötigt, um alles zusammenzuhalten. Das hat die Euro-Zone natürlich nicht. Ich kann mir schon vorstellen, dass der Euro ein gutes Ende nehmen wird. Aber um das zu erreichen, sollte man auch nicht ideologisch und dogmatisch vorgehen, sondern Flexibilität ermöglichen. Letztlich hängt der Erfolg des Euro-Modells davon ab, ob wirtschaftliche Prosperität dabei herauskommt. So wie es jetzt läuft, ist das nicht der Fall. Wenn wir Südeuropas Krise zu einer Dauerkrise machen, ist das nicht gut für Europa. Und auch nicht für die Akzeptanz und die Stabilität des Euro.

MONEY: Immerhin haben Sie noch Hoffnung.

Sinn: Ja, natürlich. Ich bin auch überzeugt davon, dass es noch Chancen gibt, den Euro zu retten. Die Fehler sind ja offenkundig, und man kann sie korrigieren.

MONEY: Aber jetzt mal ehrlich: Viel politischer Wille für eine große Lösung ist nicht zu erkennen. Gerade das Drama um Griechenland zeigt das eindrucksvoll.

Sinn: Nein, der Wille scheint in der Tat begrenzt. Man lässt die Dinge lieber vor die Wand fahren und handelt dann in allerletzter Minute, statt rechtzeitig vorher die Bremse zu ziehen.

MONEY: Weil niemand als Euro-Mörder in die Geschichtsbücher eingehen will. Selbst die Bundeskanzlerin sagte einst: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa."

Sinn: Also vom Friedensprojekt Euro kann nun nicht die Rede sein. Der Euro hat so viel Streit hervorgerufen zwischen den Ländern Europas, wie man es vorher in Westeuropa noch nicht beobachtet hat. Das Gegenteil ist also der Fall: Der Euro ist ein Zankapfel geworden.

MONEY: Namhafte Volkswirte machen sich für eine Bargeldabschaffung in Europa stark. Damit die Europäische Zentralbank erst richtig loslegen und mit Negativzinsen die Konjunktur ankurbeln kann. Was halten Sie davon?

Sinn: Ich verstehe das volkswirtschaftliche Argument der Kollegen. Die Existenz von Bargeld begrenzt die Zinsen nach unten hin, weil man lieber Bargeld hält, als sein Geld zu verleihen, wenn der Zins negativ ist. Allenfalls die Kosten der Tresore eröffnen einen gewissen Spielraum für negative Zinsen. So gesehen, begrenzt die Existenz von Bargeld die Macht der Zentralbank. Im Moment bin ich so wenig überzeugt von der Europäischen Zentralbank und ihren Motiven, dass ich es gut finde, dass wir Bargeld haben. Es schützt die Sparer gegen noch mehr Ausbeutung durch die EZB.

MONEY: Wären Negativzinsen nicht einfach die gleiche Behandlung der Symptome, nur mit einer höheren Dosierung?

Sinn: Nein. Theoretisch wäre es schon gut, wenn negative Zinsen möglich wären. Dann könnte man die Wirtschaft tatsächlich durch Geldpolitik jederzeit wieder in Schwung bringen. Aber für mich deutet doch manches Indiz darauf hin, dass die europäische Geldpolitik mit den Nullzinsen nicht nur dafür da ist, die Wirtschaft im allgemeinen Sinn in Schwung zu bringen. Sondern dass sie speziell dazu genutzt wird, die überschuldeten Staaten Südeuropas zu retten. Das ist eine Art von fiskalischer Rettungspolitik, die unter dem Deckmantel der Geldpolitik daherkommt. Und das halte ich für kritikwürdig. Wäre das Bargeld erst einmal beseitigt, würde man dieser Politik auch noch weitere Handlungsmöglichkeiten verschaffen.

MONEY: Und dem Staat die vollkommene Kontrolle über den Bürger geben.

Sinn: Nicht nur Kontrolle. Die Abschaffung des Bargeldes ermöglicht es der Zentralbank, den Gläubigern nicht nur ihre Zinsen wegzunehmen, sondern sie auch noch richtig zur Kassen zu bitten - sie also ein Stück weit zu enteignen.

Interview: Peter Bloed