„Wir sollen uns nicht verrückt machen lassen“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2008, Nr. 41, S. 27

Starökonom Hans-Werner Sinn über die übertriebene Angst deutscher Sparer, die Schuld der Amerikaner und die Fehler seiner Zunft

Herr Sinn, trauen Sie sich als Wirtschaftsforscher noch Prognosen zu?

Ja, natürlich. Kommenden Dienstag veröffentlichen die Wirtschaftsforschungsinstitute wieder ihre Konjunkturprognose.

Diese Krise hat Ihre Zunft nicht vorausgesehen.

Die Finanzkrise ist seit mehr als einem Jahr im Gange. Darüber haben viele bereits geschrieben, ich übrigens auch. Das Ende des Konjunkturaufschwungs haben wir schon im vergangenen Winter prognostiziert. Der Abstieg des Ifo-Indexes war in den letzten Monaten atemberaubend.

Aber vor derartigen Turbulenzen hat uns niemand gewarnt.

Wir waren im Frühjahr davon überzeugt, dass die Krise wieder an Heftigkeit zunehmen würde. Das Ausmaß, das sich heute zeigt, ist allerdings beachtlich. Das Hauptproblem ist die Massenhysterie, an der die Medien nicht unschuldig sind.

Sind Wirtschaftsforscher überfordert, solche Krisen rechtzeitig zu erkennen?

Was das Ausmaß und Zeitpunkt der Zuspitzung der Krise betrifft, haben Sie recht. Eine Krise wie heute gibt es nur einmal in einem Menschenleben. Die letzte Krise dieses Umfangs hatten wir 1929. Anders als damals ist die Politik aber nun gewappnet, den Zusammenbruch zu verhindern.

Aber die Krisen häufen sich in jüngster Zeit.

Nein, das sehe ich nicht. Begrenzte Finanzkrisen gab es auch früher. Denken Sie an die Weltschuldenkrise 1982, die Savings & Loan-Krise 1991 oder die Asien-Krise 1997. Man vergisst diese Krisen nur im Laufe der Zeit.

In den Lehrbüchern der Ökonomen konnten wir nicht lesen, was da auf uns zukommt.

Vielleicht lesen Sie die falschen Lehrbücher. Es gibt eine umfangreiche, kaum noch zu überschauende Literatur zu den Finanzkrisen. Ich selbst habe über den Laschheitswettbewerb bei der Bankenregulierung geschrieben, und die Analyse der überhöhten Risikobereitschaft, die durch zu geringes Eigenkapital verursacht wird, war ein zentrales Thema meiner Dissertation aus dem Jahr 1977.

Auch wenn sich die Krise angekündigt hat, an einen derartigen Sturm hat niemand gedacht.

Gedacht schon, aber keiner wollte die Krise herbeireden. Ich selbst bin seit langem überzeugt, dass die Regulierung zu lasch ist. Ob Asien-Krise, Weltschuldenkrise oder andere Krisen: stets kamen die Krisen zustande, weil den Banken erlaubt wurde, mit zu wenig Eigenkapital zu operieren. Die Weltgemeinschaft wird lernen müssen, dass Marktwirtschaft nicht Anarchie bedeutet - in der jeder tun und lassen kann, was er will. Man braucht strikte Spielregeln - auch für den Finanzsektor.

Müssen wir nicht sagen: Zur Marktwirtschaft gehören solche Krisen dazu?

Nein, sie gehören nicht dazu. Sie sind Unfälle, die man in Zukunft vermeiden muss. Zusammenbrüche von einzelnen Firmen, die auf betriebswirtschaftliche Ineffizienz zurückzuführen sind, gehören zum täglichen Geschäft der Marktwirtschaft. Darin liegt aber auch ihre Leistungsfähigkeit. Ineffizientes wird eliminiert, und Produktionskräfte werden für effizientere Bereiche der Wirtschaft freigesetzt. Aber was wir jetzt erleben, hat mit betriebswirtschaftlicher Ineffizienz wenig zu tun. Die Finanzkrise ist das Ergebnis einer volkswirtschaftlichen Ineffizienz der Regulierungssysteme, die den Banken viel zu viele Freiheiten gegeben haben.

So haben sich die Menschen das nicht vorgestellt. Sie wollen Marktwirtschaft und Wettbewerb, doch solche Unfälle mag niemand.

Das verstehe ich. Große Finanzkrisen, wie wir sie nun erleben, kommen in diesem Umfang ja zum Glück nicht so häufig vor. Die letzte Krise dieses Umfangs ist schon 80 Jahre her. Es gibt kein besseres Wirtschaftssystem, das bisher weniger Krisen zu bieten gehabt hätte. Die jetzige Krise wäre im Übrigen vermeidbar gewesen. Sie basiert nicht auf einem grundsätzlichen Fehler des Kapitalismus, sondern liegt viel mehr in der Regulierung des amerikanischen Finanzsystems. Die Investment-Banken durften selbst bestimmen, mit wie wenig Eigenkapital sie arbeiten, und konnten sich deshalb der Haftung entziehen. Dass der Staat im Zweifel einspringen würde, um die Zeche zu zahlen, war immer mit eingeplant. Solche Planungen hätte man ihnen nicht erlauben dürfen.

Das hilft deutschen Sparern, die jetzt vor den Trümmern ihres Depots stehen, auch nicht viel.

Sie übertreiben ein wenig.

Die Kurse stürzen ab, und jeder fürchtet, dass das Depot nichts mehr wert ist. Alle haben Angst.

Angst haben die Anleger vielleicht, aber tatsächlich ist bislang in Deutschland nicht viel mehr passiert als eine gewisse Korrektur der total überhöhten Aktienkurse. Der Dax ist heute noch lange nicht so weit im Keller, wie er es zu Anfang des Jahres 2003 war. Kein Kunde einer deutschen Bank hat bislang eine Einlage verloren, und es wird auch keiner seine Einlagen verlieren.

Ist alles halb so wild?

Jedenfalls nicht so, wie Sie es suggerieren. Die Realwirtschaft ist von der Finanzkrise noch nicht wirklich betroffen. Der konjunkturelle Abschwung, der nun schon seit einem dreiviertel Jahr zugange ist, ist nicht das Ergebnis der akuten Finanzkrise.

Sind in Zeiten der Krise nun Konjunkturprogramme nötig?

Dafür müsste erst mal die Konjunktur richtig in den Keller gehen. Das ist aber noch nicht der Fall. Die Realwirtschaft ist im Abschwung, liegt aber nicht am Boden. Der Arbeitsmarkt steht so gut wie nie da. Und die Aufträge in den Büchern der Maschinenbauer reichen noch bis ins kommende Jahr.

Welche Lehren müssen wir aus der Krise ziehen?

In Amerika sind Häuslebauer und Investmentbanken zu Spielern geworden. Sie haben viel zu viel Risiko gesucht. Das Problem war, dass jeder - ob Putzfrau oder Taxifahrer - ein Haus kaufen sollte. Und die Bank hat es zu 100 Prozent finanziert. Die Haftung war auf das Haus beschränkt und erstreckte sich nicht wie in Deutschland auf das sonstige Vermögen und das Arbeitseinkommen. Wer ein Haus per Kredit kaufte, konnte nur gewinnen, aber nicht verlieren. Das hat ein Übermaß an Wagemut, ein Übermaß an Zahlungsbereitschaft für Häuser und ein Übermaß an Konsum erzeugt. Banken haben ebenfalls zu wagemutig agiert, weil sie mit zu wenig Eigenkapital operieren durften.

Brauchen wir nun ein staatliches Bankensystem statt des privaten?

Nein. Der Bankensektor gehört nicht in Staatshand. Wo sind denn die größten Verluste angefallen in Deutschland? Außer bei der Hypo Real Estate - bei den Landesbanken und anderen staatlich kontrollierten Banken. Der Staat ist besonders unfähig, solche Probleme zu lösen. Und die Verluste der Hypo Real Estate stammen weitgehend aus den nach Ostdeutschland gegebenen Krediten, die notleidend geworden waren. Die Bank hält ja noch immer das alte Kreditportfolio der Hypobank, die vor gut einem Jahrzehnt daran zugrunde ging.

Aber selbst die Banker rufen nach dem Staat.

Wir in Deutschland sollten uns nicht verrückt machen lassen, auch wenn es bei uns ein Problem mit der Hypo Real Estate gibt. Unsere Banken sind nicht in ähnlicher Weise betroffen wie die angelsächsischen Banken. Dessen ungeachtet halte ich eine temporäre staatliche Beteiligung an Banken zur Stärkung der Eigenkapitalbasis für möglich, wenn die Krise sich verschlimmern sollte. Großbritannien bietet dies seinen Banken an. Das ist ein guter Weg, den man auch für Deutschland erwägen könnte, wenn es notwendig würde.

Finanzminister Steinbrück warnt vor dem Streben nach immer höheren Renditen. Zu Recht?

Ich denke schon. Wenn Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sagt, 25 Prozent Eigenkapital-Rendite müsstem ihm seine Investment-Banker verdienen, dann zeigt das doch nur, dass der amerikanische Infekt auch begonnen hatte, sich in Deutschland auszubreiten. Das kann ja nicht normal sein und zeugt vom Spielertum der Investmentbanker. Ich habe das nie für gesund gehalten. Nur mit sehr hohem Risiko sind solche Renditen zu erkaufen.

Welche Rendite ist angemessen?

Ich kann keine genaue Zahl nennen, aber ungesund war das alles auf jeden Fall. Ich mache auch keine moralischen Vorwürfe. Aber eine zu schwache Bankenregulierung, die dem Eigenkapital durch Fremdkapitalbeigaben eine viel zu hohe Hebelwirkung erlaubt, führt zu solchen Ergebnissen.

Warum sollte man nun den Banken helfen?

Wenn einzelne Banken untergehen, ist das nicht so schlimm. Aber wenn das gesamte System in Not gerät, dann sind alle gefährdet.

So lautet also die Lektion?

Ja, und es ist eine teure Lektion für die Welt. Die Amerikaner wollen etwa, dass wir uns an den Kosten ihres Rettungspakets beteiligen. Obwohl wir in Deutschland unschuldig sind und ohnehin schon betroffen sind, weil wir das Geld, das wir ihnen geliehen haben, vielfach nicht zurückbekommen. Auch in der Europäischen Union gibt es die Idee für einen Fonds. Da kann man als Deutscher ja nur mit dem Kopf schütteln. Uns geht das hier in dem Maße ja gar nichts an. Wir haben unsere Industrie in Deutschland. Die Engländer haben ihr Finanzsystem. Und jeder lebt davon. Wenn unsere Industrie aber am Ende wäre: Ob dann die Engländer auch dafür einspringen würden, mit einem europaweiten Fonds? Ich denke, nicht.

Der ifo-Präsident

Hans-Werner Sinn ist einer der bekanntesten und renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Sinn wurde 1948 in Westfalen geboren. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Münster, später promovierte er in Mannheim. Im Jahr 1984 wurde Sinn Professor für Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort leitet er seit 1999 das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Von 1997 bis 2000 war er auch Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik. Sinn widmet sich vor allem der Wirtschaftspolitik und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Das Gespräch führten Tim Höfinghoff und Winand von Petersdorff