„Reformen haben keine Mehrheit“

Interview mit Hans-Werner Sinn, horizonte, 03/2006, S. 6-7

Rente, Gesundheit, Steuern, Arbeit – Deutschland steckt mitten in der Reform-Ära und verändert sich. Oder etwa nicht? horizonte fragte nach bei Prof. Dr. Dr. Hans-Werner Sinn, Präsident des weltweit renommierten ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München und Referent beim Volksbank Symposium im November.

horizonte Herr Professor Sinn, in der Zeitung „Die Welt" haben Sie unlängst kurz und knapp formuliert: „Deutschland stagniert. Es gibt keine Mehrheit für Reformen." Hat Sie der Mut verlassen?
Prof. Sinn Mich bestimmt nicht! Nein, es ist vielmehr die Große Koalition, die sich nicht zum großen Wurf durchringen kann. Die Wirtschaftsreformen, die Ex-Kanzler Schröder angeschoben hat, werden von der Koalitionsregierung nicht weiter vorangetrieben. Angela Merkel kann nicht durchsetzen, was Deutschland wirklich gut täte.

horizonte Wieso nicht - und was wäre denn wirklich gut für unser Land?
Prof. Sinn Zunächst zur Erklärung: Es gibt keine Mehrheit für liberale Reformen, denn diese würden zunächst zu viele Verlierer mit sich bringen. Nicht weniger als 41 Prozent der Wahlberechtigten beziehen staatliche Renten, volle öffentliche Stipendien, Arbeitslosenunterstützung, Invalidenrente, Sozialhilfe und ähnliche staatliche Leistungen. Sie bilden also eine klare Mehrheit gegenüber den 10 Prozent der oberen Einkommensbezieher, die mehr als 50 Prozent des gesamten Steueraufkommens zahlen sowie gegenüber den oberen 20 Prozent, die mehr als 80 Prozent zahlen. Es ist also kein Wunder, dass (bei den Wahlberechtigten) ein viel größeres Interesse an einer sozialstaat- orientierten als an einer markt-orientierten Politik besteht.

horizonte Und was schlagen Sie in diesem Dilemma vor?
Prof. Sinn Die Idee des Sozialstaates ist richtig und wichtig. Der Sozialstaat gibt der Gesellschaft Sicherheit und sozialen Frieden. Allerdings zahlt Deutschland sehr viel großzügigere Lohnersatzleistungen als andere Länder. Dadurch wird ein Mindestlohnanspruch erzeugt, auf dem die gesamte Lohnskala und sämtliche Tarifverhandlungen basieren: Der niedrigste Lohn muss über der Sozialhilfe liegen, sonst nimmt ihn keiner an, und wenn dieser Lohn höher als die Produktivität der betroffenen Arbeitnehmer ist, kommt kein Beschäftigungsverhältnis zustande, weil die Unternehmer ja Gewinn machen wollen. Was wir brauchen, ist eine „Aktivierende Sozialhilfe", die die Bereitschaft, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, fördert und so neue Arbeitsplätze schafft.

horizonte Wie sieht die aus?
Prof. Sinn Das vom ifo Institut entwickelte Modell der „Aktivierenden Sozialhilfe" ist eine Art Kombilohn, dessen Entwicklung übrigens auch im Koalitionspapier ausdrücklich als Ziel festgehalten ist. Das Modell hat im Kern drei Elemente: Die Hinzuverdienstmöglichkeiten werden bei den Sozialleistungen deutlich verbessert und das selbstverdiente Einkommen im Eingangsbereich wird bezuschusst. Zweitens sinkt das bisherige Arbeitslosengeld II für jene, die nicht arbeiten, und drittens gibt es ein Beschäftigungsangebot für alle, die nicht in der privaten Wirtschaft unterkommen. Dies erfolgt in kommunaler Regie über Zeitarbeitsfirmen, um den Arbeitslosen ein Einkommen in Höhe des heutigen Arbeitslosengeldes II zu sichern.

horizonte Zum Abschluss, Herr Professor Sinn: Was hätte Deutschland davon?
Prof. Sinn Bei deutlich vergrößerten Hinzuverdienstmöglichkeiten, so haben wir es berechnet, könnten über drei Millionen neue Jobs entstehen. Das hier im Detail näher zu erläutern, würde den Rahmen sprengen. Ich bin mir aber sicher, dass wir mit der „Aktivierenden Sozialhilfe" zum Beispiel mehr ehemalige Schwarzarbeiter in das lokale Handwerk bringen und einen zweiten, interessanten Arbeitsmarkt für Ältere entwickeln könnten. Eine mutigere Reform brächte ein verbessertes Einkommen der Ärmsten in Deutschland und einen flexiblen Arbeitsmarkt, auf dem die Löhne fallen können, ohne dass damit die Einkommen der Geringverdienerfallen.