Olle Kamelle

Steigende Löhne sind kein Garant für mehr Konsum. Die IG Metall sollte sich lieber für stärkere Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivkapital einsetzen, sagt Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 15.09.2008, Nr. 38, S. 54

Jetzt ist es amtlich: Der Vorstand der IG Metall hat vor wenigen Tagen seine Forderungsempfehlung an die regionalen Tarifkommissionen bekannt gegeben. In der Tarifrunde will die Gewerkschaft sieben bis acht Prozent mehr Lohn herausholen. Eine so hohe Forderungsempfehlung gab es seit 1992 nicht mehr. Im vergangenen Jahr hatte die IG Metall 6,5 Prozent Lohnerhöhung verlangt – und schließlich 4,1 Prozent ab dem 1. Juni 2007 durchgesetzt. Keine Frage: Die Zeit der Bescheidenheit ist endgültig vorbei. Und das nicht nur im Metallbereich. In der Stahlindustrie sind die Löhne im Februar um 5,2 Prozent gestiegen. Die chemische Industrie zahlt regional unterschiedlich seit März, April oder Mai 4,4 Prozent mehr. Bei der Deutschen Post beträgt das Plus vier Prozent ab November.

Die Gewerkschaften verweisen auf einen Nachholbedarf, und sie haben damit auf den ersten Blick sogar recht. Zwischen 2000 und 2007 stieg der Tariflohn je Stunde nach Berechnungen der Bundesbank um 11,5 Prozent, der Verdienst je Arbeitnehmerstunde laut Statistischem Bundesamt um 10,7 Prozent. Der rechnerische Verteilungsspielraum, den man unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität je Stunde und des Preisindex des Bruttoinlandsprodukts abschätzen kann, betrug jedoch 18,8 Prozent. Das heißt: Gut sechs Prozentpunkte dieses Verteilungsspielraums wurden in dieser Zeitspanne nicht genutzt.

Man darf aber nicht übersehen, dass in den 30 Jahren zuvor von Bescheidenheit keine Rede war. Von 1970 bis 2000 sind die Lohnkosten je Arbeitnehmerstunde um 42 Prozent über das beschäftigungsneutrale Niveau hinausgeschossen. Sieben bescheidenen Jahren stehen 30 Jahre des Übermaßes gegenüber. Noch immer liegt deshalb das verarbeitende Gewerbe Westdeutschlands mit durchschnittlichen Stundenlohnkosten von 35 Euro weltweit hinter Norwegen und Belgien auf dem dritten Platz. Und die Schuld dafür, dass sich die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe seit Jahrzehnten im freien Fall befindet und dass dort seit der deutschen Vereinigung 1,2 Millionen mehr Arbeitsplätze verloren gingen, als durch die neuen Bundesländer hinzukamen, trägt die IG Metall.

Dass es im vergangenen Jahr eine kleine Atempause bei dieser verheerenden Entwicklung gab, ist kein Indiz für eine Trendwende. Die Zeichen für den konjunkturellen Abschwung der Welt und Deutschlands könnten deutlicher nicht sein. Die Reise geht nach unten. Trotzdem kommt die IG Metall nun wieder mit ihrer ollen Kamelle, man müsse die Binnennachfrage stärken, indem man die Löhne erhöht. Dieser hanebüchene Unsinn wird auch dadurch nicht besser, dass man ihn laufend wiederholt. Die Binnennachfrage, die den wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten drei Jahren getragen hat, war allein die Investitionsgüternachfrage. Höhere Löhne sind das sicherste Mittel, diese Binnennachfrage wieder kaputt zu machen. Wenn nicht investiert wird, gibt es keine Jobs. Und wenn es keine Jobs gibt, gibt es keine Löhne.

Deutschland hat in diesem Aufschwung ein Jobwunder erlebt, weil die Löhne hinter der Produktivitätsentwicklung zurückblieben. Unterstützt durch die Lohnzuschüsse und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Rahmen der Agenda 2010, gab es erstmals seit den Siebzigerjahren einen Aufschwung, in dem die Löhne stagnierten. Der Arbeitsmarkt belohnte die Zurückhaltung mit einem Beschäftigungswunder. Der verheerende Trend zu immer mehr Arbeitslosigkeit, der seit Willy Brandt zu verzeichnen war, wurde gebrochen. Allein Westdeutschland hat 1,2 Millionen Stellen mehr bekommen, als es die Wiederholung der bisherigen konjunkturellen Entwicklungsmuster hätte erwarten lassen. Auch wer den Gesetzen der Ökonomie nicht zu folgen vermag, kann an diesem Faktum nicht vorbei. Wäre das Binnennachfrage-Argument der Gewerkschaften korrekt, hätten wir wegen der Lohnzurückhaltung nicht mehr, sondern weniger Stellen haben müssen.

Gleichwohl wird Deutschland trotz des Beschäftigungswunders in diesem Jahr im Schnitt vermutlich immer noch etwa 3,3 Millionen Arbeitslose haben. Das sind über drei Millionen mehr als im Jahr 1970, als die Phase der maßlosen Lohnsteigerungen begann. Es kann insofern nicht die Rede davon sein, dass man nun schon wieder zulangen könnte. Es gibt keinen Nachholbedarf. Für 2008 ergibt sich nach den Prognosen des ifo Instituts für den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsanstieg je Stunde und für den Preisindex des Bruttoinlandsprodukts ein beschäftigungsneutraler Verteilungsspielraum von 1,3 Prozent. Dies ist weit weg von den Vorstellungen der IG Metall, die für 2009 einen gesamtwirtschaftlichen „verteilungsneutralen Spielraum“von vier Prozent errechnet. Warum lassen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht endlich einmal etwas Neues einfallen? Nun, da die Politik den Weg für betriebliche Beteiligungsmodelle geebnet hat, steht zum Beispiel einer Vereinbarung von Sparlöhnen anstelle von Barlöhnen nichts mehr im Wege. Schon Ferdinand Lassalle hat erkannt, dass nur eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital die Möglichkeit bietet, dem ehernen Lohngesetz der Marktwirtschaft auszuweichen. Die Mitarbeiterbeteiligung ist der Königsweg zum Aufbrechen des ewigen Konflikts zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Beschäftigung. Niemand hindert die Tarifpartner daran, ihn zu beschreiten – und so möglichst viel von der günstigen Entwicklung der letzten drei Jahre in die kommende Zeit der konjunkturellen Flaute hinüberzuretten.